August:ine – Relevant, Relevanter, Feminismus!
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Gender-Gaps: Lücken in der Gesellschaft, die signifikante Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern bezeichnen. Leider bleibt es nicht bei feinen gesellschaftlichen Rissen, die mit provisorischen Fadenstichen geflickt werden können. Die Differenzen zwischen den Geschlechtern bilden mittlerweile eine tiefe Schlucht, deren Gewaltigkeit mit beschwichtigenden Legitimierungsversuchen zu überbrücken versucht wird. Hier geht es nicht um „feministisches Mimimi“ und den Versuch, alles und jede:n als sexistisch zu entlarven. Es geht um Studien, wissenschaftliche Erkenntnisse und statistische Werte, die teils lebenswichtige, teils tabuisierte Benachteiligung von Frauen – lediglich aufgrund ihres Geschlechts – verdeutlichen.
Wir sind (glücklicherweise) eine diverse Gesellschaft, die über die Geschlechtsbezeichnungen „männlich“ und „weiblich“ hinausgeht. Die meisten Langzeitstudien beziehen sich jedoch ausschließlich auf ebendiese beiden Geschlechter, weshalb im Folgenden auch nur von Mann und Frau die Rede ist. Dass das biologische Geschlecht noch immer eine so hohe Relevanz und Entscheidungsposition über Lebensqualitäten einnimmt, ist ein Problem, das nach Veränderung verlangt.
Es gibt ebenfalls gesellschaftliche Lücken, in denen auch Männer benachteiligt sind (Stichwort: Militärdienst, Scheidungsrecht, Strafzumessung,…). Auch das männliche Geschlecht leidet unter sexistischen Strukturen. Dies sind wichtige Themen, die Anklang und Gehör verdienen. Dieser Artikel dreht sich jedoch primär um die strukturelle Diskriminierung der Frau, da wir nach wie vor in einem Patriarchat leben, das Männer in vielen Lebensbereichen begünstigt.
Wenn Frau weniger verdient (Pay-Gap)
Der berühmt-berüchtigte Gender-Pay-Gap. Lapidar formuliert: Frauen verdienen weniger als Männer. Genauer gesagt: Die Differenz des Bruttostundenverdienstes von Frau und Mann ist so erheblich, dass der Begriff sogar einen eigenen Brockhaus-Eintrag einnimmt. In Zahlen gesprochen, beträgt die Lohndifferenz pro Stunde durchschnittlich 18 Prozent. Laut dem statistischem Bundesamt sind rund drei Viertel des Verdienstunterschieds zwischen Männern und Frauen in Deutschland strukturbedingt. Frauen arbeiten häufiger in schlecht bezahlten Branchen, erreichen seltener Führungspositionen und eine Erwerbsunterbrechung, wie eine Schwangerschaft oder die Pflege Angehöriger wirkt sich negativ auf ihre Karriere aus. Sind Männer nun einfach das tatkräftigere Geschlecht und die besseren Arbeiter oder liegt hier etwa eine strukturelle Benachteiligung vor?
Wenn Thomas Thomas befördert (Leading-Gap)
Dass Führung in einem Land, das seit 16 Jahren von einer Frau regiert wird, noch immer als männliche Fähigkeit ausgelegt wird, ist verwunderlich. Die Aussage „Männer können das einfach besser“ ist schlicht falsch. Führung wird seit Anbeginn der Zeit als eine rein männliche Qualifikation ausgeführt, obwohl bereits eine Analyse aus dem Jahr 1999 Folgendes zeigte: es gibt tatsächlich Unterschiede im männlichen und weiblichen Führungsstil. Während Männer einen eher dominanten und autoritären Führungsstil an den Tag legen, agieren Frauen demokratischer und beziehungsorientierter. Abgesehen davon, dass diese Ergebnisse eng mit den gesellschaftlichen Erwartungen und Geschlechtsstereotypen zusammenhängen, zeigen die Ergebnisse vor allem eines. Männer und Frauen können sich auch auf Führungsebene fließend ergänzen und als Yin-Yan-Konstruktion voneinander lernen. Auch aus ökonomischer Sicht ist Geschlechterdiversität im Management sinnvoll. Es lohnt sich für ein Unternehmen, wenn Frauen und Männer gleichermaßen in Führungsebenen vertreten sind, denn alles Andere kann nur als Monokultur bezeichnet werden, der es aufgrund ihrer einseitigen Strukturen an Vielfältigkeit und Integration fehlt.
Wird diese Lücke nicht geschlossen, windet sich ein Unternehmen repetitiv im sogenannten Thomas-Kreislauf. Ein „Auswahlverfahren“, nach dem Mitglieder der Chefetage in deutschen Unternehmen auserlesen werden.
Ausschlaggebend sind hierbei nicht etwa objektive Bewertungskriterien, sondern die Passgenauigkeit zu einer spezifischen Kategorie Mann. Sein Name Thomas, ein weißer Mann Mitte 50, der BWL studiert hat, einen gestreiften Schlips trägt und gemeinsam mit seinen Spiegelbildern in Form von Jens, Stefan und Michael in in der Chefetage eines Automobilherstellers sitzt. Thomas gibt sich nämlich am liebsten mit Thomas (oder Jens) ab, weshalb sich sein Prototyp in der Führungsebene fortlaufend reproduziert. Die Thomas-Gang versteht sich ohne Blicke, ergänzt sich ohne Worte und rekrutiert als potentielle Nachfolger lediglich ihre Artgenossen. Diese Sonderform von (un)natürlicher Selektion bewirkt, dass das durchschnittliche Vorstandsmitglied in Deutschland laut einer deutsch-schwedischen Studie zu 97% männlich und zu 76% deutsch ist. Erfahrungshorizont und Blick über den Tellerrand sind durch patriarchalische Scheuklappen blockiert. Was klingt, wie eine wilde feministische Hypothese, ist (leider) eine exakte Abbildung der Realität: in den Vorständen von DAX, MDAX, SDAX und TecDAX gibt es mehr Personen, die Thomas oder Michael heißen (49), als es insgesamt Frauen gibt (46). Von Diversität fehlt jede Spur, ihr Weg verläuft sich in einer klaffenden gesellschaftlichen Lücke.
Wenn nur einer kommt (Orgasm-Gap)
Achtung Achtung, es geht um ein Tabu-Thema! Dieser öfters belächelte Gap bringt oft verhaltene Gespräche mit unangenehm langen Schweigepausen mit sich, ist dennoch eine wissenschaftlich belegte Erkenntnis: auch im Bett kann es ungerecht zugehen. Der Orgasm-Gap zeigt, dass Männer und Frauen bei heterosexuellem Geschlechtsverkehr unterschiedlich oft zum Orgasmus kommen. Studien ergeben, dass ungefähr 65 Prozent der Frauen einen Höhepunkt erreichen, bei Männern sind es 95 Prozent. Durchschnittliche Siebzig Prozent aller Frauen haben ihn bereits einmal vorgetäuscht. Wie so viel Anderes ist auch das gesellschaftliche Verständnis von Geschlechtsverkehr ein männliches, denn im Vordergrund steht die männliche Befriedigung. Die Sexualtherapeutin Carla Thiele hält fest: „Frauen leiden unter dieser falschen Vorstellung von Sexualität“. Ins Detail geht es des Anstands wegen an dieser Stelle nicht. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema, die nicht hinter vorgehaltener Hand stattfindet, lohnt sich trotzdem.
Wenn die Welt männergemacht ist (Data-Gap)
Der männliche Körper wird als Repräsentation des menschlichen Körpers interpretiert, um auf dieser Basis ganze Wissenschaften auszutüfteln. Denn Frauenkörper sind nicht einfach Miniaturausgaben von Männern, wie jahrelang angenommen wurde. Sie unterscheiden sich in biologischer Hinsicht bis auf die Zellebene voneinander. Das Fehlen von weiblichen Daten sorgt für eine unbeabsichtigte Verzerrung wissenschaftlicher Studien. Deshalb beruhen viele Lebensbereiche, die für alle Geschlechter gelten, ausschließlich auf männlichen Daten. Die Auswirkungen sind beachtlich und reichen von lebensverändernden bis zu alltäglichen Nachteilen.
Ein paar Beispiele:
Medikamente werden bei Frauen oft falsch dosiert, weil man bei der Angabe vom männlichen Körper ausgeht. Fehlerhafte Diagnosen werden aufgestellt und Symptome fälschlicherweise mit dem Zyklus, PMS oder Wechseljahren begründet – im Zweifel wird als Allheilmittel die Pille verschrieben. Frauen sterben fast doppelt so oft wie Männer an Herzinfarkten, weil die typischen Frühwarnsignale eines Herzinfarktes (Brust- und Bauchschmerzen, Atemnot, Übelkeit) eher bei Männern auftreten, während Frauen unter anderem Symptomen wie Müdigkeit, Schlafproblemen und Schwäche leiden: Symptome, die von vielen Ärzt:innen als Begleiterscheinung der Wechseljahre fehlgedeutet werden. Auch bei Impfstoffen kommt es immer wieder zu unvorhergesehenen Nebenwirkungen im Zusammenhang mit dem weiblichen Zyklus. Laut der britischen Arzneimittelbehörde MHRA gab es im April diesen Jahres „958 Verdachtsmitteilungen von Zyklusstörungen nach einer Impfung mit Astra Zeneca oder BioNTech/ Pfizer“.
Warum? Weil weibliche Daten in der Entwicklung fehlen.
17 Prozent mehr Unfallverletzungen enden für Frauen tödlich. Nein, diese Zahl lässt sich nicht auf die sagenumwobene weibliche Parkunfähigkeit zurückführen. Um ein Fahrzeug sicher zu konzipieren und Gefahren für Fahrer:innen zu minimieren, führen Automobilhersteller Dummytests durch. Mit 1,75 Meter und 78 Kilo entspricht ein klassischer Buddy allerdings nicht ansatzweise den Maßen eines kleineren Menschens oder der durchschnittlichen Frau (1,63 Meter groß und 70 Kilo schwer). Die Folgen eines Unfalls können für ebendiese Menschen erheblich sein, weil das Auto nicht ihrem Körperbau angepasst wurde. Die weltweit empfohlene Bürotemperatur von 20 Grad basiert auf der Stoffwechselrate eines 40 Jahre alten und 70 Kilogramm schweren Mannes (remember Thomas?) und ist für viele Frauen aufgrund hormoneller Unterschiede zu kalt.
Was bleibt, ist eine Lücke in Gesellschaft und Verständnis, denn bei einer Bevölkerung, in der Mann und Frau gleichermaßen vertreten sind, könnte man wohl annehmen, dass diese Aufteilung auch in der Forschung berücksichtigt wird. Jahrelang wurde angenommen, dass es zwischen männlichen und weiblichen Körpern außer Größe und Reproduktionsfunktionen keine nennenswerten Unterschiede gibt, weshalb sich die Medizin auf die „männliche Norm“ konzentrierte. Alles, was von dieser Norm abwich (=alles Weibliche) galt als unnormal und atypisch. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Aristoteles, dem wir nicht nur langatmige Unterrichtsstunden, sondern auch ein „verstümmeltes“ Bild des weiblichen Körpers verdanken. O-Ton: „Ein Weibchen ist ein verkrüppeltes Männchen“ (zum Nachlesen und Genießen: Aristoteles -Über die Zeugung der Geschöpfe). Da kann ja einfach was nicht stimmen, wenn die Hoden (=Eierstöcke) nach innen gekehrt sind… Übrigens haben Eierstöcke erst seit dem 17. Jahrhundert einen eigenen Namen. Soviel also zur Geschichte des weiblichen Körpers (vgl. für diesen Absatz und viel Wichtiges mehr „Unsichtbare Frauen“ von Carolin Criado-Perez).
„Wir brauchen eine Gesundheitsversorgung, die die Unterschiede der Geschlechter mitdenkt“ (Professorin Dr. Gertraud Stadler).
Laut Stadler werden Medikamente grundsätzlich an jungen, gesunden Männern getestet. Bei Frauen sei das Risiko einer plötzlichen Schwangerschaft und damit einhergehenden Gefahren für den Fötus zu hoch. Weil Schwangere routinemäßig aus klinischen Studien ausgeschlossen werden, gibt es über ihre Behandlung nahezu keine Daten. Der weibliche Körper ist einfach zu komplex, zu variabel und teuer, um ihn in Medikamententests einzubeziehen, die Einbeziehung beider Geschlechter wäre eine reine Verschwendung von Ressourcen. Es tut uns wirklich sehr leid, dass wir Frauen mit unseren komplizierten Zyklen und unberechenbaren Hormonen schlicht keine zuverlässige Grundlage für medizinische Erkenntnisse bilden. Dass ebendieser nervige Hormonhaushalt einen erheblichen Unterschied in den biologischen Grundvoraussetzungen und gesundheitlichen Bedürfnissen bildet, verschwindet in der platzwundenartigen Data-Gap, die sich auch nicht mit Tierpflaster und Pusten schließen lässt.
Wenn Frausein teuer ist (Gender-Pricing)
Parfüm, Rasierschaum, Duschgel: Frauenprodukte aus der Kosmetikbranche sind teurer als das jeweils männliche Pendant. Parfum für Frauen ist durchschnittlich 54 Prozent teurer, Rasierschaum bis zu 90 Prozent (an sich schon ein spannendes Phänomen, da die perfekte Frau ja bittesehr gänzlich unbehaart sein sollte). Auch beim Friseur lässt Frau für einen simplen Haarschnitt bis zu 60 Prozent mehr Erspartes als Mann. Die Preisdifferenz lässt sich nicht durch unterschiedliche Inhaltsstoffe rechtfertigen, da diese nur einen Bruchteil der Herstellungskosten darstellen und sowohl „vanillige Brombeerverführung“ als auch „sexy dark passion“ gleichwohl natürliche Gerüche darstellen. Auch die Farbe Pink (die universelle Lieblingsfarbe aller weiblichen Lebewesen) ist kein teures Produktionsgut. Studien zufolge sind Frauen weniger preissensibel und bereit, mehr Geld für ihr Äußeres auszugeben. „Die Kunst der Händler besteht darin, das auszunutzen“- so Armin Valet von der Hamburger Verbraucherzentrale. Mein untergewichtiger Studierenden-Geldbeutel zuckt bei diesen Worten kupfergeldklirrend zusammen – vielleicht lässt sich die Lücke ja mit den Andenken meiner Teenie-Zeit (500-Gramm-Bodyshop-Cremes) füllen?