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Im Sommer betrat ich an einem Mittwochmorgen als erste Patientin an diesem Tag eine Arztpraxis in Lingen. Die Praxiseinrichtung war uralt und es roch muffig. Die Zeit in dieser Praxis, pardon, in diesem Antiquariat, schien stehen geblieben zu sein: Möbel, die noch älter als der praktizierende Arzt waren, und auch bei meinen Großeltern in der Diele stehen. Nach einem kurzen Interview mit meiner Oma stellte sich heraus, dass ihre Eltern diese schwarzen Worpsweder Stühle aus Eiche mit Binsengeflecht als Sitzfläche und Schnitzereien in der Rückenlehne in den 1930er Jahren gekauft haben.
Jedenfalls wurde ich sehr freundlich von der Arzthelferin empfangen, die ebenfalls die 60 überschritten haben dürfte. Im Wartezimmer stand ein Pappaufsteller mit kleinen Proben von Head & Shoulders. Ich weiß nicht, ob die Arzthelferin wirklich nur die Proben loswerden wollte, jedenfalls meinte sie zu mir „Hier, nehmen Sie mal diese Tütchen mit, Studenten können sowas doch immer gut gebrauchen!“ und drückte mir ungefähr acht davon in die Hand und verließ mit dem leeren Pappaufsteller das Wartezimmer. Im Beisein des anderen Patienten, ebenfalls ein Silver Ager, war mir diese Aktion sichtlich unangenehm. Aber als die Arzthelferin jünger war, herrschte vermutlich verstärkt die Meinung vor, Studierende seien chronisch pleite und könnten sich nichts leisten. Also ein Akt der Barmherzigkeit – herzlichen Dank für Ihre Güte, Frau Arzthelferin.
Schließlich traf der Arzt auch in der Praxis ein und ich wurde aufgerufen. Der Anblick des Besprechungszimmers beeindruckte mich nach allem, was ich bis dahin erlebt hatte, nicht weiter: Eine Waage, Medizinschränke und ein Waschbecken aus dem vergangenen Jahrhundert. Der alte Herr bestätigte meine selbst gestellte Diagnose und schickte mich nach nebenan ins Behandlungszimmer, wo sich seine Arzthelferin um den Rest kümmern sollte. Kurz darauf riss sie die Tür auf und betrat energisch den Raum. „Na dann wollen wir uns mal deinen (!) Fuß ansehen. Was haben wir denn hier?“, murmelte sie vor sich hin und zog meinen linken Fuß zu sich auf den Schoß, um die betroffene Stelle besser inspizieren zu können.
„Weißt du eigentlich, wie Warzen entstehen?“ Ich hätte ihr keine präzise Antwort geben können und die gute Frau sollte bitte einfach nur meinen Fuß verarzten, weswegen ich verneinte. „Den Kindern erkläre ich es immer so: Warzen sind wie Grippe am Fuß!“ Ich war sehr gespannt auf ihren Vortrag in leichter Sprache. „Warzen sind kleine Wucherungen der Oberhaut, die durch Viren ausgelöst werden. Besonders anfällig dafür sind Menschen mit einem geschwächten Immunsystem, kleinen Hautwunden oder auch Stress“, setzte sie ihren kleinen theoretischen Exkurs fort. „Wenn es nach mir ginge, sollten die Patienten immer schlauer aus der Praxis gehen.“ Soweit, so gut – ein sehr löblicher Ansatz, Frau Arzthelferin. Doch dann kippte die Stimmung.
Sie fragte mich, was ich hier in Lingen machen würde. „Ich studiere hier am Campus und bin fürs Studium nach Lingen gezogen“, antwortete ich. „Ah ja, dann machst du sicherlich Maschinenbau oder so etwas?“ „Nene, Kommunikationsmanagement im 5. Semester“, brachte ich hervor, während sie ein Gel auf die betroffene Stelle schmierte und meinen Fuß mit Pflastern strangulierte. „Hmm, sowas brauchen wir doch gar nicht! Bist du dir sicher, dass du nicht doch lieber etwas mit Technik studieren möchtest? Das hat doch viel mehr Zukunft! Was sagt denn dein Vater dazu? Ist der mit deiner Entscheidung überhaupt einverstanden? Gerade jetzt während der Pandemie werden die Unternehmen doch Leute wie euch als letztes einstellen. Überleg dir das doch nochmal!“ Ich war völlig perplex und überrascht von ihrem Monolog, der vor Distanzlosigkeit und Übergriffigkeit nur so strotzte.
Aber das „Beste“ kam erst noch. „Hast du schon mal darüber nachgedacht, Lehrerin zu werden? Das ist doch hervorragend mit der Familienplanung vereinbar. Meine Nichte hat auch gerade ihr Referendariat abgeschlossen. Aber unterrichte dann lieber nicht an einer gewöhnlichen Schule mit den vielen geflüchteten Kindern, die kein Deutsch sprechen können. Dann kannst du gleich in den Wald gehen und dich erhängen. Tu dir das nicht an! Geh lieber zu einer Privatschule, da hast du solche Sorgen nicht!“ Ich versuchte auf möglichst viele ihrer Kritikpunkte etwas zu entgegnen, doch merkte schnell, dass diese Frau sehr festgefahrene Ansichten vertrat. Schließlich war sie fertig mit ihrer Pflasterkonstruktion und entließ mich mit einem Lächeln, einem bandagierten Fuß und acht Head & Shoulders Tütchen. Beim Rausgehen rief sie mir noch zu: „Nächsten Mittwoch um diese Zeit kommst du wieder zur Kontrolle!“
Nachdem die Behandlung in der Woche darauf vom Arzt als erfolgreich deklariert wurde, hatte ich keine Berührungspunkte mehr mit der Praxis. Als ich jedoch vor ein paar Tagen mit dem Fahrrad direkt vor der Praxis langfuhr, sah ich die Arzthelferin. Aber sie war nicht allein. Neben ihr lief eine junge Frau auf dem Bürgersteig. Eine junge Frau mit Down Syndrom, der sie die Hand auf die Schulter legte. In diesem Moment musste ich sofort an ihre Worte aus dem Gespräch im Sommer denken. Zuerst wetterte sie gegen geflüchtete Schüler mit mangelnden Sprachkenntnissen und jetzt betreut sie selbst eine Person, die von Trisomie 21 betroffen ist. Dieser Widerspruch zwischen der Diskreditierung und der Unterstützung benachteiligter Menschen wollte sich mir nicht erschließen.Trotz dieser kognitiven Dissonanz konnte ich meine „Meinung“ über sie jedoch relativieren.
Möglicherweise war die junge Frau ihre Tochter oder ein anderes Familienmitglied. Vielleicht engagiert sie sich aber auch ehrenamtlich in ihrer Freizeit und betreut behinderte Menschen. So oder so – die Arzthelferin hat einmal mehr gezeigt, dass man Menschen (zu) oft aufgrund des ersten Eindrucks direkt in eine Schublade steckt, ohne sie womöglich gut zu kennen. Dabei können sie später womöglich eine ganz andere Seite von sich zeigen. Wichtig ist, sich in die andere Person hineinzuversetzen und zu verstehen, dass die eigene Perspektive oft nicht die einzig richtige ist. Dennoch waren ihre Äußerungen während meiner Behandlung sehr bedenklich. Ach ja, wer noch Shampoo braucht, kann sich gerne melden.