DIE GOOD NEWS DER WOCHE
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Ein Beitrag zur Regionalkonferenz Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.
Über das „Brandmal der Risikogruppe“ sprach unsere Redakteurin Dayna schon vor genau einem Jahr. Im Mai 2020 schrieb sie in ihrem Artikel über die Gefahren einer Stigmatisierung derjenigen, die unter diesem Begriff subsumiert werden. Heute – genau ein Jahr später – scheint diese Gefahr aktueller den je. Dass Daynas Aufruf – zu mehr Achtsamkeit in der Bezeichnung von Betroffenen – auch noch ein Jahr danach solch eine wichtige Rolle spielen würde, hätten auch wir zu Beginn der Pandemie noch nicht geglaubt.
Am 14. April trug sie ihre Denkanstöße als eine von insgesamt sieben Referent:innen auf der Regionalkonferenz der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. (LVG & AFS) vor. Als Fachverband für Gesundheitsförderung und Prävention arbeitet die LVG landesweit daran, zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit beizutragen. Im Mittelpunkt der Regionalkonferenz im April mit dem Thema „Risikogruppe allein zu Haus – Leben im Alter zwischen Führsorge und Stigmatisierung“ stand ein sehr wichtiges Thema zur Gesundheit: Wo verläuft die Grenze zwischen notwendigem Infektionsschutz und gesellschaftlicher Ausgrenzung?
Und auch wir haben uns gefragt: Wieso wird eigentlich so selten über die Gesundheit älterer Menschen gesprochen und warum stehen stattdessen viel häufiger Krankheiten, Gefahren und Risiken im Vordergrund? Und wer darf und sollte über dieses Thema sprechen? Nach der Veranstaltung wurde diese Frage klar beantwortet: Jeder.
Hier soll die Konferenz noch einmal reflektiert und die angesprochenen Denkanstöße für alle, die dabei sein konnten, gesammelt werden.
Was bedeutet eigentlich „social distancing“?
Wie viel wissen wir über andere? Und wann haben sich Kinder schon mal auf die Schule gefreut? Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Annelie Keil berichtete aus ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen und warf dabei nicht nur bei mir einige Fragen auf. Was bedeutet es für jeden Einzelnen, ein ganzes Jahr lang ohne soziale Kontakte auszukommen? Für mich ist das eine der schwierigsten Herausforderungen, der ich mich bisher stellen musste. Aber es fällt mir trotzdem nicht schwer, denn ich weiß, warum und für wen ich es mache. Jedenfalls dachte ich das. Als junger Mensch („jung“ kann hier bitte von jedem selbst definiert werden) sehe ich es als meine Verantwortung, auf andere Rücksicht zu nehmen. Besonders auf solche, die gefährdeter scheinen als ich. Dass sind, so wird es einem gesagt, auch vor allem ältere Menschen – ob sie das nun wollen oder nicht. Ich habe Glück, habe ich mir schon so oft gedacht. Ich lebe in einer großen WG und habe auch trotz Pandemie keine enorme Angst um meine Gesundheit. Ich gehe mehr oder weniger blind davon aus, dass ich schon gesund genug bin, um das alles zu überstehen. Als junger Mensch macht man sich eher Gedanken um die Psyche, die mentale Gesundheit und das, was social distancing mit unserer Persönlichkeit macht. Aber wie ist es, wenn einem Tag für Tag gesagt wird, dass einen draußen vor der Tür praktisch alles auf direktem Weg ins Grab bringen kann?
Je länger das Leben dauert, desto gefährlicher wird wahrgenommen.
Prof. Dr. Annelie Keil, Gesundheitswissenschaftlerin
Es könne sich schließlich nicht jeder selbst entscheiden, wer zur „Risikogruppe“ gehört und wer nicht. Laut Frau Prof. Keil eine Entscheidung, die mit Selbstbestimmung nicht mehr viel zu tun habe. Nachvollziehbar ist das in jedem Fall.
Coronavirus – Was ist das überhaupt?
Um der Beantwortung dieser Frage ein Stückchen näher zu kommen, wurden drei Sichtweisen auf die Pandemie in den Vordergrund gebracht: Die Medizin-ethische, die psychologische und die junge Perspektive.
Die erste Sichtweise beschrieb Dr. Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen: Die Ethik. Nur einen Monat später ist die Grunddiskussion, die Frau Wenker angesprochen hat, so präsent wie nie. Haben wir noch das Recht, vollständig Geimpften ihre freiheitlichen Grundrechte einzuschränken? In Hinblick auf die Solidarität und den Zusammenhalt einer Gesellschaft eine sehr schwere Frage, die wir noch einmal aufgreifen möchten.
Einerseits soll und möchte niemand länger zuhause bleiben als notwendig. Und auch die Wirtschaft, die Gastronomie und das soziale Leben würden von Lockerungen sehr profitieren. Aber wieso ist es auf einmal nicht mehr legitim, jung und alt, risikoreich und risikoarm voneinander zu trennen? Wer nun ein Jahr lang auf sich und andere aufgepasst, sich mit niemandem getroffen hat und glücklicherweise nicht durch Beruf, Alter oder Krankheit für eine Impfung priorisiert ist, der steht jetzt hinten an. Ist das nun fair? Ist es fair alle anderen trotzdem noch einzuschränken? Ist nicht jede Impfung ein Schritt in die richtige Richtung? Und was ist schon richtig oder falsch? Das alles sind Fragen, die bisher und vielleicht auch in Zukunft niemand völlig beantworten. Selbstreflexion über das eigene Handeln und der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus, sind gerade deshalb momentan so unfassbar wichtig.
Auch Prof. Dr. Clemens Tesch-Römer vom Deutschen Zentrum für Altersfragen betonte, dass immer alles eine solidarische Frage sei: Warum fahren Einige in den Urlaub? Warum lassen andere die Oma allein? Zwar ist alles eine solidarische Frage, nur leider sind solche Fragen am schwersten zu beantworten. Letztendlich bleibt ein Fazit stehen: Es trifft eben nicht nur Alte. Ist es also überhaupt in Ordnung, sogar ein Jahr nach Beginn der Pandemie noch von einem „Risikostatus“ zu sprechen? Wo fängt eine medizinische Einschätzung an und wo hört Diskriminierung auf?
Genau diese Frage hat sich auch schon unsere Redakteurin Dayna gestellt, im Mai 2020. Auf der Regionalkonferenz referierte sie zur dritten Sicht auf die Coronapandemie: die „junge“. Als ehemalige Bachelor- und aktuelle Masterstudentin am Institut für Kommunikationsmanagement kennt Dayna sich mit Kommunikation, aber auch mit Sprache und ihrer Wirkung aus, sehr gut sogar. Sie unterstrich das nach wie vor große Problem mit dem Stigma, denn es führe zwangsläufig immer zu einem Label, zur Herabwürdigung einer Personengruppe. Ein Stigma bezeichnet immer einen Makel, etwas, dass andere von der Gesellschaft trennt und unterscheidet. Die Beschreibung des Wortes „Risiko“ ruft dabei im Kontext der Corona-Pandemie etwas Negatives in unseren Köpfen hervor. So trifft die Bezeichnung „Risikogruppe“ nicht nur eine Gruppe von Personen, die selbst ein höheres Risiko einer Erkrankung haben. Zwangsläufig klingt es danach, als würde von ihnen auch ein Risiko für alle anderen ausgehen. Mit Selbstbestimmung hat das wieder nicht viel zu tun. Für Dayna ist es daher ganz klar: „Risiko“ und „Pandemie“ dürfen nicht zu starren Kategorisierungen führen. Jeder hat das Recht auf Leben und Unversehrtheit. Und dass das keine Frage des Alters, der Herkunft, der Vorerkrankung, des Berufs oder der persönlichen Einstellung sein darf, das sollte spätestens jetzt doch jedem klar geworden sein. Es heißt eben nicht „Risikogruppe“ sondern „Menschen mit erhöhtem Risiko“. Auch Dayna rief nochmals dazu auf, die Sprache hier als Chance zu sehen:
Sprache und Kommunikation kann die Gesellschaft nicht nur spalten, sondern auch vereinen.
Dayna Heiß, Masterstudentin des Instituts für Kommunikationsmanagement
Wir als WieL-Redaktion haben für uns persönlich, aber auch für unsere Arbeit vieles aus der Regionalkonferenz mitgenommen. Trotzdem bleiben Fragen offen. Das ist in Ordnung, denn das ist normal. In Zeiten einer globalen Pandemie ist es schlichtweg nicht möglich die eine ausschließlich „richtige“ Entscheidung zu treffen. Immerhin ist die Gesellschaft und jeder einzelne Mensch davon betroffen. Aber oft reicht es schon, das zu machen, was sich für jeden einzelnen von uns richtig anfühlt.
Bleibt gesund, passt auf euch auf und ruft mal wieder eure Oma an!