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11. November 2019Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?

Makellos, unkompliziert, abwechslungsreich, voller Erlebnisse – das Leben von Influencern scheint perfekt zu sein. Dass diese Fassade häufig nur der Außendarstellung dient und das Leben der DagiBees und Bibis dieser Welt gar nicht unbedingt so schillernd ist wie es aussieht, scheinen die meisten Konsumenten ihrer Inhalte völlig aus dem Bereich des Möglichen zu verbannen. Das Leben der Influencer auf Instagram, YouTube und Co. sieht immer noch anders aus und zeigt nur Ausschnitte aus der Wirklichkeit. Das führt dazu, dass wir uns die Fragen stellen können: Was ist echt? Was entspricht von dem, was uns präsentiert wird, wirklich der Offline-Identität einer Person?

Selbstinszenierung, Online- und Offline-Identitäten und Aufmerksamkeitssuche beginnen bereits im Kleinen. Etwas, das jeder von sich, Freunden oder irgendeinem Bekannten kennt, ist sicher das schöne Anrichten unseres Essens, sodass es gut und gerne direkt für ein Koch-Magazin oder Food-Blog weiterverwendet werden könnte. Aber muss ich da jetzt mitmachen und mein Leben auf Social Media möglichst perfekt und aufregend darstellen? Keiner gibt vor, dass wir bei den sozialen Netzwerken angemeldet sein müssen. Alles ist freiwillig, oder nicht?
Eine Person – mehrere Rollen
Dennoch haben wir das Gefühl, ständig etwas zu verpassen und nicht mitreden zu können, wenn wir nicht regelmäßig die Apps checken, um zu sehen was es Neues gibt, wo Marie gerade an ihrem Soja Latte Macchiato nippt, welches romantische Essen Julias Freund gerade für die beiden zaubert und was für neue Schuhe sich Max gestern wieder gekauft hat. Der Grund dafür ist, dass die Übergänge zwischen online und offline fließend sind. Im Offline-Leben passen wir uns situationsbedingt in Anwesenheit von Familie, Freunden oder Arbeitgebern der Umgebung an. Auch hier sind die Übergänge fließend, der Wechsel erfolgt automatisch ohne, dass wir darüber nachdenken. Wir sind ein und die selbe Person, nur die Perspektive verändert sich. Es ist eine andere Rolle, in der sich lediglich die Prioritäten verschieben. Online fällt diese Möglichkeit weg, sich bestimmten Situationen anzupassen. Es gibt nur ein Bild, das für alle gleich ist. Das gilt für den professionellen Influencern genau so wie für jeden anderen Social Media User.
Idealisiertes Online-Ich?
Erschafft man sich deshalb (unbewusst?) ein Online-Ich? Denn im Internet haben wir, anders als im realen Leben, die Kontrolle über die Selbstdarstellung. Aufnahme-Blickwinkel, beliebig viele Versuche, ein Foto zu schießen, Nachbearbeitung – das Ergebnis ist ein idealisiertes Abbild, das nicht die Realität darstellt. Was nicht ins Ideal passt, wird nicht verwendet. Was ist also Schein und was Sein? Ist das ein Spiel von unterschiedlichen Identitäten? Die Frage, die sich daraufhin jeder stellen sollte: Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Oder auch: Wie digitalisiere ich mich selbst?

Wir alle sind Selbstdarsteller, Schauspieler im eigenen Leben, für das wir das Regiebuch schreiben. Das Verhältnis von Wahrheit und Beschönigung können wir dabei selbst flexibel gestalten. Mit Hilfe von allen möglichen Apps kreieren wir Spiegelbilder von uns, Wunschbilder. Dieses Bild entspricht nicht mehr dem Menschen, der wir wirklich sind. Wir beeinflussen und bestimmen ganz gezielt, wie wir auf die Öffentlichkeit wirken wollen, indem wir steuern, was wir zeigen wollen. Wir steuern die Interaktion unseres Online-Ichs mit der Außenwelt, indem wir einen Filter zwischen Realität uns Fremdwahrnehmung legen. Warum machen wir das? Menschen, die uns kennen und uns Nahe stehen, muss das doch auffallen? Die Illusion muss über einen längeren Zeitraum so perfekt sein, dass niemand einen Blick hinter die Maske werfen kann. Geht es uns vielleicht aus psychologischer Sicht darum, Erinnerungen an uns bereits im Vorfeld zu beeinflussen, ein Denkmal von uns zu formen? Denn Online-Spuren überdauern uns immerhin.
Wir wissen auch, dass es einfacher ist, jemanden über soziale Netzwerke zu suchen, als in der Offline-Welt. Das kennt jeder – wir sehen jemanden, den wir sympathisch finden in der Mensa und im gleichen Moment werden die Freunde auch schon zu FBI-Agenten und geben ihr Bestes, um das Instagram-Profil dieser Person zu finden. Sichern wir uns also ab?
Wenn die Definition des Ichs aber nur über Momente des Glanzes geschieht, liefern wir am Ende ein verzerrtes Bild. Das kann für andere, die uns zunächst nur durch unsere Online-Präsenz kennen, zu Enttäuschungen führen, wenn sie uns dann im realen Leben gegenüberstehen. Aber auch uns selbst können wir damit deprimieren, wenn wie im Spiegel auf einmal ganz anders aussehen als auf dem Instagram-Post, den wir eben noch vorbereitet haben. Der Nebeneffekt dieser Selbstinszenierung ist also die Frage, ob wir uns nicht selber irgendwann etwas vormachen. Halte ich mich für jemanden, der ich gar nicht bin?
Reality-Check
Um mich zu definieren, muss ich mich nicht durch die Augen anderer betrachten und mein Verhalten ihrer Reaktionen in den sozialen Netzwerken anpassen, denn die Gefahr dabei ist, dass wir in unserer Eigenkreation gefangen sind. Und dann hilft vielleicht nur noch der Ausstieg wie bei dem Instagram-Model Essena O’Neill. Die junge Australierin hat das Business dieser Welt hinterfragt, sich Gedanken darüber gemacht, wieso wir uns wie darstellen und was damit überhaupt unsere Message ist. „Social media is not real life.“ – mit diesem Satz hat sie ihre Karriere letztendlich beendet und erklärt, dass sie die Selbstinszenierung auf Instagram nicht mehr unterstützt und ihr entgegenwirken möchte.
Wir sollten alle regelmäßig solche „reality checks“ wie Essena machen und hinterfragen, was wir da überhaupt machen, denn Authentizität ist heute immer seltener und dafür eine umso wichtigere Ressource. Unser Online-Ich bedingt auch immer irgendwie unser Offline-Ich. Sollte das nicht aber eigentlich umgekehrt sein? Wenn wir Situationen und Emotionen nur noch für unsere Instagram-Follower kreieren, werden wir zum Statisten unseres eigenen Lebens. Dabei wollten wir doch eigentlich nur die Hauptrolle spielen.