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17. November 2021Über das Schreiben schreiben
Bereits in den ersten Zügen unserer Schulkarriere werden wir mit abstrakten Interpretationen, wie „halber Schneemann“ oder „lange Schlange“ zum Buchstabennachmalen animiert – alphabetische Meilensteine des Lebens. Über die Relevanz der nahtlos anknüpfenden Schreibschrift-Lehre, die inklusive prototypischem Lamy-Holz-Füller nicht gegenwartsloser sein könnte, lässt sich streiten. Fakt ist dennoch, dass Schreiben einen manifestierten Teil unseres Lebens einnimmt.
Sind wir nähmlich doch dähmlich?
Die Zeiten von „Wer nämlich mit h schreibt“ und „he, she, it, das s muss mit“ sind längst passé. Was in der Schule von Kafka-Interpretationen und obligatorischen Kommata-Diktaten abgedeckt wurde, ersetzten im schulisch-universitären Übergangsstadium sporadische Motivationsschreiben, Einkaufslisten und Geburtstagskarten. Autokorrekturen und Tastaturen unterbinden heute die Notwendigkeit, sich grundliegend mit Schrift und Grammatik auseinanderzusetzen. So fortschrittlich und zeitgemäß diese Entwicklungen sind, so sehr entfernen sie uns von der befreienden Wirkung, die das Schreiben eigentlich mit sich bringt. Dieser Text wird zwar ebenfalls an einem mobilen Endgerät verfasst und hätte ohne die lobenswerten WordPress-Voreinstellungen vermutlich Flüchtigkeitsfehler wie Sand am Meer. Allerdings deklariert die nonchalante Lesbarkeit-Analyse meine Zeilen auch just in diesem Moment als schlecht: zu lange, zu verschachtelte, zu passive Sätze, zu viele Klammern (ich liebe Klammern). Wörter wie „nonchalant“ und „sporadisch“ sind zu kompliziert, über die mangelnden Zwischenüberschriften muss erst gar kein Diskurs eingeleitet werden. Wie paradox (sorry WordPress), dass ausgerechnet ein Text über das intuitive (sorry again) Schreiben von einer automatisierten Korrektur gewälzt wird, die meint, sie sei in der Position, meinen Schreibstil zu rügen.
Dieser Text war eigentlich nicht als WordPress-Bashing beabsichtigt, weshalb ich an dieser Stelle ein ungeplantes Zwischenfazit ziehe: Wir verlernen das Schreiben. Offensichtlich nicht vollständig, denn immerhin sind die meisten von uns auch nach dem dritten Hoppla (für alle Outsider: der ikonische Must-Have-Cocktail in Lingen) noch befähigt, routinierte WhatsApp-Nachrichten zu versenden. Wir verlernen, einfach einen Stift zwischen die Finger zu klemmen, die uns damals höflich als „die drei Freunde“ vorgestellt wurden und lose Gedanken auf Papier zu projizieren.
Mut zum Tagebuch!
Dabei ist dieses Projizieren, der Gebrauch des Schreibens als emotionaler Filteranlage genau das, was oft notwendig wäre. Es gibt Gefühle, Erfahrungen, Ängste, die wir nicht artikulieren können und wollen. Gedanken, die wir solange stumm rekapitulieren, bis sie uns in schlaflosen Nächten wachhalten und jegliche Aufmerksamkeit vom Alltagsgeschehen weglenken. Beim ungefilterten Schreiben kommen diese Gedanken zum Vorschein, denn sie müssen nicht laut ausgesprochen werden, um Bestand zu haben. Nur aufschreiben, in Silben kleiden und ihnen einen Platz zwischen Zeilen verleihen. Bedürfnisse, Wünsche, Ängste, Erfahrungen: all das passt zwischen die Deckel eines Buches, wenn man es nur zulässt. Tagebuchschreiben ist weder peinlich, noch ein Zeichen von Schwäche oder Gefühlsduseligkeit. Und selbst wenn: niemand wird deine Texte je lesen (es sei denn, du kratzt die Kurve zur Prominenz doch noch oder deplatzierst das geheimnisvolle Manifest so offensichtlich wie Lola in LOL). Einige Jahre später erfreut man sich tatsächlich auch an denjenigen hormongesteuerten Teeniegedanken, die damals ihren Weg zu Papier gefunden haben. Schreiben hilft in Form eines fast therapeutischen Effekts, Gefühle und Gedanken zu kategorisieren, zu reflektieren, auszusortieren und ist nebenbei eine der wenigen Aktivitäten, bei denen du komplett abschalten kannst. Ein Stift, Papier, deine Gedanken: das ist alles, was es braucht.
„Für mich persönlich ist das Tagebuchschreiben eine Form, etwas aus mir herauszubringen. Wenn ich spüre, der innere Druck wird so groß, ich laufe – bildlich gesprochen – emotional über, mein Gefühl wird so stark, dass es ein Ventil braucht zur Klärung, dann schreibe ich Tagebuch. Dabei kommt es für mich nicht darauf an, ob das richtig oder wahr ist, was ich da schreibe. Ich schreibe, was ich gerade denke, auch was ich anderen nicht sagen will oder kann. Ich schreibe also ohne Vorbehalte.“
(Inge Detlefsen: 2009, Psychologie Heute 11/09, S. 68-71)
Quintessenz: wenn ich es trotz hinterhältiger WordPress-Schreibkorrektur vollbringe, einen Text über das Schreiben zu schreiben (wo wir uns schon so kontinuierlich im Schulkontext bewegen: das Ganze hat etwas von diesen freistundenartigen Lions-Quest-„Lernen lernen“-Unterrichtseinheiten), wirst auch du mit deinen eigenen Gedanken fertig. Leg los, lass los – egal, ob sich die erste Zeile mit „liebes Tagebuch“ oder „heute ist ein Scheißtag“ füllt.
Zum Schluss ein Funfact sowie Vorschlag für deine erste Zeile: „Heute ist der I love to write day.“ – also ein optimaler Zeitpunkt zum Loslegen. Mit diesen Abschlussworten beende ich einen (meiner Meinung nach) gelungenen Text trotz unglücklicher Schreibkorrektur (take notes, WordPress).