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1. Juni 2021Bist du jetzt getriggert, oder was?
Triggerwarnung: Dieser Artikel beschäftigt sich mit Inhalten über Triggerwarnungen, die für einige Leser:innen neu sein können. Zudem können bestimmte Begriffe für einzelne Leser:innen belastend und triggernd wirken. Durchlesen auf eigene Verantwortung. Informationen und Ressourcen für Menschen, die mit Triggerwarnungen nichts anfangen können, sind im Folgenden verfügbar.
Wir können alle noch viel von unserer Streaming-Langzeitbeziehung lernen. Während Netflix vor jedem Film löblich die einzelnen Inhaltspunkte auflistet, fehlt im Großteil unseres Alltags davon jede Spur. Ob in der Tagesschau, Instagram-Story, Uni-Präsentation oder zwischen Buchseiten. Mit Triggerwarnungen wird gespart, wie mit Butter auf Brot. Deswegen lasst uns alle eine große Scheibe von Netflix abschneiden und es in Zukunft besser machen.
Was bedeutet „triggern“?
„Bist du jetzt getriggert, oder was?“. Eine Standardfloskel, die inflationär in unseren täglichen Sprachgebrauch integriert und harmlos ironisierend eingenistet wurde. Dass hinter „getriggert“ mehr steckt, als ein Synonym für „Das regt mich auf“ und Beleidigung-Material gegen Aktivist:innen, ist Vielen nicht bewusst, dafür umso wichtiger.
Das englische Wort „Triggerwarning“ bedeutet wörtlich übersetzt „Auslöser-Warnung“ und ist genau das. Sie warnt Rezipient:innen, dass Inhalte provozierend, beleidigend oder verstörend wirken können. In der Psychologie wird von „Hinweisreizen“ gesprochen. Trigger sind bestimmte Reize, die bei Menschen mit Traumata oder unangenehmen Erfahrungen schlechte Erinnerungen auslösen können. Im schlimmsten Fall kommt es zum Flashback, einem Wiedererleben des Ereignisses, bei dem alle Gefühle und Schmerzen der vergangenen Situation wieder auftreten.
Deshalb sind Triggerwarnungen so wichtig und notwendig. Jede:r Rezipient:in kann selbst entscheiden, ob er/sie sich die nachfolgende Darstellung zu Gemüte führen möchte. Eine Triggerwarnung ist demnach eine Art Schutzschild, das wir Betroffenen bieten können, um sie vor traumatischen Erinnerungen und deren Folgen zu schützen.
Wann brauchen wir eine Triggerwarnung?
Don’t judge a book by it’s cover. Wir wissen nie genau, was einen Menschen beschäftigt und was er/sie durchlebt hat. Studien zeigen, dass 50-60% im Laufe ihres Lebens mit einem Trauma konfrontiert werden. Es ist nahezu unmöglich, die Psyche eines Gegenübers komplett zu durchschauen und einzuschätzen, wann eine Triggerwarnung notwendig ist. Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer Familiengeschichte von Holocaust-Berichten getriggert sind, in Anderen lösen Kaugeräusche eine Angstattacke aus. Bei Einigen genügt die bloße Erwähnung eines Themas, bei Anderen schrillt nach detaillierten Darstellungen die Alarmglocke. Fakt ist: Menschen sind divers und somit auch ihre traumatischen Erfahrungen. Deshalb gilt: Better safe than sorry. Für die Sprechenden/ Schreibenden ist der Aufwand einer Triggerwarnung vergleichend gering – das Ausmaß für die Betroffenen umso größer.
Geräusche, Worte, Gerüche und Bilder: das alles können Trigger sein und Betroffene in eine Traumasituation zurückversetzen. Da wir nicht die Lebensgeschichte jedes Menschens mit den dazugehörigen Traumata kennen, können wir Triggern nicht zu 100% vorbeugen. Es gibt jedoch einige sensible Themen, vor denen immer eine Triggerwarnung stehen sollte. Der nachfolgende Katalog kann dabei zur groben Orientierung dienen:
- Gewalt, Blut
- Suizid, Selbstverletzung
- Tod, Mord
- Krieg
- Essstörungen und andere Süchte
- Diskriminierung: Rassismus, Sexismus, Homo-/Trans-/ Interfeindlichkeit, Ableismus…
- Mobbing
- Schwangerschaft, Abtreibung
- Sex
- Tierquälerei
- …
How to Triggerwarnung
Vor alle sensiblen Inhalte gehört also eine Warnung. Ob Instagram, Film, PowerPoint, Podcast oder WieL-Artikel. Sie werden entweder direkt am Anfang oder vor dem betroffenen Abschnitt platziert. Wichtig ist, dass sie VORHER und GUT SICHTBAR gesetzt werden. Für die Formulierung sind noch keine Regeln in Stein gemeißelt, sodass jede:r selbst entscheiden kann, wie die Triggerwarnung am effektivsten wirkt.
Eine Möglichkeit, die auf Social Media oft zu sehen ist: TW (kurz für „Triggerwarnung“) + das entsprechende Thema. Zum Beispiel: TW: Gewalt.
Um die notwendige Aufmerksamkeit zu generieren, empfiehlt sich in Texten, Büchern oder Filmen ein längerer Text. Zudem sollte erwähnt werden, wo Betroffene Hilfsangebote erhalten können. Informationen dazu findet ihr hier. Für eine unkomplizierte Anwendung könnt ihr den folgenden Text, für nahezu alle Anlässe kopieren und die entsprechenden Themen ergänzen.
Triggerwarnung: Dieser ________ enthält Inhalte über ________. Das kann für Betroffene belastend oder retraumatisierend wirken. Bitte entscheidet ehrlich, ob ihr euch den Beitrag zu Gemüte führen wollt. Informationen und Hilfe für Menschen, die mit ________Probleme haben, sind verfügbar unter ________.
Die üblichen Kritiker:innenstimmen
Wer sich umhört, könnte meinen, dass das Thema Triggerwarnung mehr Menschen „triggert“, als die eigentlichen Inhalte. „Triggerwarnungen zensieren Inhalte. Die neuen Generationen sind Weicheier. Das bringt doch alles nichts.“ Drei Kritikpunkte, die der Widerlegung zum Opfer fallen: 1.) Triggerwarnungen zensieren Nichts, denn die Inhalte bleiben bestehen – nur eben mit einer Vorwarnung, die dem Inhalt nichts abspricht. 2.) Menschen, die ihre Vergangenheit und ihren psychischen Zustand ernst nehmen und deshalb von gewissen Themen Abstand halten, sind Vieles, aber keine Weicheier.
Und zuletzt: natürlich bieten Triggerwarnungen keinen undurchlässigen Schutz vor der Konfrontation mit sensiblen Themen. Aber bietet ein Stoppschild einen hundertprozentigen Schutz vor einem Zusammenstoß? Nein, denn darum geht es auch nicht. Sowohl Stoppschild als auch Triggerwarnungen sind das Mindeste, was wir als solidarische Gesellschaft tun können, um uns auf Andere einzulassen und rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Auch, wenn wir keinen sicheren Schutz garantieren können: wir können wenigstens versuchen, unsere Mitmenschen anzuhören, da zu sein und zu helfen.
Außerdem: Netflix kann es auch!