Lingen grüßt die Welt- Der Blick aus dem Fenster (Woche 8)
10. Mai 2020Lingen grüßt die Welt – Der Blick aus dem Fenster (Woche 9)
17. Mai 2020COVID-19 – Das Problem mit dem Stigma
Heißt es Risikogruppe, Menschen mit erhöhtem Risiko oder Menschen?
Eine Kolumne über die Gefahr in Zeiten von COVID-19 zur Stigmatisierung von Menschen mit erhöhtem Ansteckungsrisiko. Oft auch als „Risikogruppe“ in der Medienlandschaft, aber auch in der Gesellschaft, geframed. Ein Beitrag über ebendiese Gruppe, der „Risikogruppe“.
Die Meinungen in der Gesellschaft zur aktuellen Lage und dem Coronavirus gehen mit Fortschreiten der Kontaktbeschränkung immer weiter auseinander. Es werden Stimmen immer lauter, die sich eine endgültige Lockerung für Deutschland wünschen, um dem eigenen Alltag wieder nachgehen zu können. Meinungen wie: „Wir können nicht ewig so weiter machen, nur um die Risikogruppe zu schützen“ oder „Die Maskenpflicht halte ich wirklich für übertrieben. Ich gehöre ohnehin nicht zur Risikogruppe“ erlebe ich immer wieder in meinem sozial-digitalen Umfeld. Doch was für ein Konsens kann sich bilden oder bildet sich durch solche Aussagen in der Gesellschaft? Wir blicken erst einmal zurück!
Zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen Mitte März führte der Sozialpsychologe Stefan Pfattheicher (Universität Aarhus) mit seiner Forschungsgruppe eine Studie zur physischen Distanzierung in Zeiten der COVID-19-Pandemie durch. Durchgeführt wurde diese Studie in den USA, im Vereinigten Königreich und in Deutschland. Das Ergebnis zeigt, dass vor allem Empathie für die „Risikogruppe“ dazu führt, Solidarität zu zeigen und die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus einzuhalten. „[…] Empathy [for those most vulnerable to the virus] is indeed a basic motivation for physical distancing […]“, so geht es aus der Studie hervor.
Diese Ansicht kann ich ebenfalls teilen. In der Kolumne „Der Blick aus dem Fenster (Tag 15)“ habe auch ich mich mit der Frage beschäftigt, wie ich älteren Menschen mehr Sicherheit schenken kann. Noch im vergangenen Monat empfand ich die Empathie für Menschen mit erhöhtem Risiko als sehr ausgeprägt in der Gesellschaft. Doch wie hat sich diese Solidarität verändert? Die Daten der Studie sind mittlerweile acht Wochen alt. Das scheint in Zeiten von Corona eine Ewigkeit zu sein.
Doch wer zählt zur Personengruppe mit erhöhtem Risiko?
Das Robert Koch Institut (RKI) spricht von Personen mit einem höheren Risiko für den schweren COVID-19-Krankheitsverlauf. So erhöht sich, laut RKI, das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf ab dem 50. bis 60. Lebensjahr. Außerdem begünstigen zusätzliche Grunderkrankungen, unabhängig vom Alter, die Gefahr auf einen schweren COVID-19-Verlauf. Gemeint sind Krankheiten wie Diabetes, schwere Atemwegserkrankungen, Herzkreislauferkrankungen oder Erkrankungen an Niere, Leber oder Krebs. Aber auch eine Immunschwäche erhöht das Risiko. Dem RKI zufolge können mehrere Grunderkrankungen das Risiko erhöhen, einen schweren Verlauf zu erleiden.
„Schwere Verläufe können [aber] auch bei Personen ohne bekannte Vorerkrankung auftreten [..] und werden auch bei jüngeren Patienten beobachtet [..]“.
Robert Koch Institut – Stand: 07.05.2020
Und was hat das ganze jetzt mit Stigma zu tun?
Das Brandmal der „Risikogruppe“!
Genau das ist ein Stigma. Ein „Brandmal“. Das Wort lässt sich aus dem Griechischen ableiten. In den 1960er Jahren prägte vor allen Dingen der amerikanische Soziologe Erving Goffman den Begriff. Unter dem Begriff „Stigma“ wird ein Makel verstanden. Dieser Makel wird einer Person oder Personengruppe von der Gesellschaft zugeschrieben. Durch dieses zugeschriebene Merkmal unterscheidet sich die Person oder Personengruppe – negativ – von der Gesellschaft. Dadurch findet eine Herabwürdigung der Person statt.
Das Merkmal selbst ist dabei aber kein Stigma, sondern lediglich das Verständnis davon, dieses Merkmal als Stigma zu klassifizieren. Ob ein Merkmal zum Stigma wird, ist daher allein von der Gesellschaft und deren Normen abhängig. Der Begriff „Risikogruppe“ ist daher ein Label für all diejenigen, die augenscheinlich älter als 60 Jahre alt sind und/oder erkennbare Beschwerden haben. Da Grunderkrankungen oft aber nicht direkt ersichtlich sind, prägen vorrangig ältere Menschen das Bild der Risikogruppe in der Gesellschaft. Aussagen wie weiter oben genannt („Wir können nicht ewig so weiter machen, nur um die Risikogruppe zu schützen“), können also im Kollektiv unweigerlich dazu führen, dass der Risikogruppe ihr Recht auf Leben abgesprochen wird, ja sogar ihre Mündigkeit.
Corona – Ein Virus der Risikogruppe
Doch es fängt schon bei der Begrifflichkeit an. Eine Risikogruppe kann nämlich bedeuten, dass die Personen der Gruppe ein erhöhtes Risiko bei der Ansteckung haben, aber auch, dass die Personengruppe selbst ein Risiko für die Gesellschaft darstellt. Egal wie es gedeutet wird, aber die Reduzierung einer Personengruppe auf lediglich ein Label, nämlich, dass sie gefährdet sind und dem Tod näher stehen als „gesunde“ Menschen, ist Diskriminierung. Bei diesen Menschen handelt es sich nämlich um genau das. Menschen. Genauso wie es Menschen mit Diabetes und nicht Diabetiker, Menschen mit Behinderungen und nicht Behinderte, Menschen mit psychischen Erkrankungen und nicht psychisch Kranke heißt (oder heißen sollte), so sollte es auch Menschen mit erhöhtem Risiko und nicht Risikogruppe heißen.
Das Coronavirus ist schließlich kein Virus der Risikogruppe. Lediglich die Eintrittswahrscheinlichkeit eines schweren COVID-19-Verlaufs erhöht sich. Solch ein Label kann in der Gesellschaft weite Kreise ziehen. Wie verheerend ein solches Stigma ist, zeigte sich 1981 zum Aufkommen des HI-Virus. Bis heute hat sich das Stigma der „Schwulenkrankheit“ gehalten und Erkrankte erfahren weiterhin Diskriminierung und Ausgrenzung. Aus den Fehlern der Vergangenheit muss gelernt werden!
Des Weiteren führt die inflationäre Verwendung des Begriffs „Risikogruppe“ in einem solchen Kontext dazu, dass Feindbilder aufgebaut werden. Genau diese Gefahr sieht auch das Forscherteam des Austrian Corona Panel Project aus Wien. In wöchentlichen Online-Befragungen werden 1.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer wieder zu ihrer Einstellung in der Coronakrise befragt. Politologin Barbara Prainsack von der Uni Wien sprach bei einer „Wiener Vorlesung“ Ende April von ihren Erkenntnissen. Man solle nicht das Wohlbefinden der Jungen für das Wohlbefinden der Alten opfern, war eine Antwort aus der Befragung. Weiter hieß es bei einem anderen Teilnehmer: „Wieso schränke ich mich ein und die Pensionisten gehen joggen?“. Die Studie aus Österreich zeigt außerdem, dass es mit Stigma und Scham verbunden ist, zur Risikogruppe zu gehören. Diese Ergebnisse aus Wien zeigen, dass in Deutschland sehr wohl die Gefahr der Stigmatisierung der Personengruppe mit erhöhtem Risiko bestehen kann.
Über „Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“
Ist das Leben eines „alten Menschen“ also weniger Wert als das Leben (oder die Lebensumstände) eines jungen Menschen?
In einem Fernsehinterview Ende April hatte Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer (Grüne), mit umstrittenen Äußerungen für Aufsehen gesorgt. „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen“, sprach er. Er versuchte seine Aussage damit zu erklären, dass armutsbedrohte Kinder unter den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie leiden und sterben würden.
Als Konsequenz entzogen die Grünen Palmer die Unterstützung und forderten sogar einen Parteiausschluss. Dem ZDF erzählte Palmer, dass er für etwas verurteilt werde, was er nicht gemeint habe. Doch wie kann eine solche Aussage nicht so gemeint gewesen sein?
Die Universität Glasgow veröffentlichte im April eine Studie, welche sich mit der grundsätzlichen Thematik von Palmers Aussage beschäftigt. Darin wurde die durchschnittliche Restlebenszeit eines COVID-19-Verstorbenen untersucht. Die Studie bezieht sich auf Daten aus Wales, Schottland und Italien. Das Sterbealter der an COVID-19 Verstorbenen wurde mit den Angaben des Durchschnittsalters der WHO verglichen. In einer Modellrechnung kam dann heraus, dass Frauen durchschnittlich 11 und Männer durchschnittlich 13 Jahre ihres Lebens durch die Corona-Pandemie verloren haben. Und das trotz des Alters und den Vorerkrankungen. Um auch Aussagen für Deutschland treffen zu können, hat der NDR die Studie mit bundesweiten Daten rekonstruiert. Dabei kam heraus, dass ohne das Coronavirus eine durchschnittliche Restlebenszeit von 10,7 Jahren (Männer) und 9,3 Jahren (Frauen) zu erwarten ist. Die Studie widerlegt also Palmers Aussage: „Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“ und zeigt, dass Menschen hohen Alters mit Vorerkrankungen eben doch noch „Lebensfähig“ sind.
Und die Moral von der Geschicht?
Menschen mit erhöhtem Risiko sollten daher zwar geschützt, aber keinesfalls ausgegrenzt oder diskriminiert werden. Besonders in einer solchen Krise muss weiterhin Solidarität und Empathie für Menschen aller Art gewahrt werden. Die „Risikogruppe“ zu entmündigen, ist in keiner Weise zielführend. Vielleicht sollte sich jeder einzelne für den Anfang einfach bewusst machen, wie und in welcher Weise und Absicht er über die Menschen mit erhöhtem Risiko, oder auch über andere Minderheiten, redet! Und das fängt schon bei der Bezeichnung der Minderheit an.
Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben! Und das steht sogar unter Artikel 2 Absatz 2 im Grundgesetz.